anstoss

  sehpferdvs sehpferds magazin für anstöße und anstößiges
rosinentexte_500_x
Es gibt noch bei weitem trostlosere Gegenden in Berlin als ausgerechnet Tempelhof – schon nach zwei Tagen ist der Besucher davon überzeugt, wenn er nicht gerade auf Sightseeingtour im Nachtleben der City ist.

Wer weiß, wie der Flughafen Tempelhof heute aussieht, der erwartet auch von der Umgebung nichts: City-Flughafen ja, doch in Wahrheit ähnelt das Ganze eher einem Provinzbahnhof. Wer dort nicht bleiben will, versucht, in den angrenzenden Lokalen einen freundlichen Platz zu finden, doch er wird enttäuscht: in den wenigen Lokalen (es sollen sechs an der Zahl sein) herrscht gähnende Leere. Doch da ist ein Café: ein Wiener Kaffeehaus sozusagen, das einen wundersamen, aber anheimelnden Eindruck macht.

Ein älterer Herr steht auf, wohl der Wirt, fragt, was es sein dürfe. Ich blicke auf den unwienerischen Kuchen, der geradeswegs aus der Konditorei nebenan zu kommen scheint: Essbar, möglicherweise, aber wienerisch keinesfalls. Ich bestelle einen Kaffee, werde gefragt, welchen Kaffee, und denke: doch wienerisch, bestelle eine Melange, woraufhin der Wirt merkwürdig guckt: einen Melange? Woher kennen Sie eine Melange, mein Herr? Nun, aus Wien, entgegne ich, und aus Ungarn, selbstverständlich.

Ich sehe: der Herr ist kein Wiener, kein Österreicher, kein Deutscher, kein Berliner: Bulgare sei er, ein Freund der Künste, Pianist, nun ja, Sammler auch. Redet von Liszt, von Wiener Musik, die eben nur Wiener beherrschen, und von schwarzer Musik, die eben nur Schwarze beherrschen … „oder haben Sie schon einmal einen schwarzen Geiger im Symphonieorchester gesehen?“. Eine Antwort wollte er nicht.

Auf Flohmärkten, so sagte er, kauft er, was hier zu sehen sei: Die Bilder von schönen Frauen zum Beispiel: „Die schönsten Frauen der Welt“, und natürlich ist Sissy auch darunter, nebst mehreren Geweihen von jagdbarem Wild.

Ob ich seine Ikonen gesehen hätte? Er sammle alle Heiligen, freilich vor allem die seiner Kirche, der orthodoxen. „Wissen Sie, wir bezahlen keinen Papst“, sagt er, und dann: „Warum müssen wir Christen in drei Gruppen zerspalten sein?“, doch schnell wechselt er das Thema: „Ein König, ein guter König, das wäre das beste für das Volk“ – einer, der Rosen pflanzen ließe.

Ich verlasse das Lokal, nachdem ich die Zeitung zum dritten Mal gelesen hatte, um die Wartezeit zu verkürzen und betrete wieder die Abfertigungshalle, die einer Bahnhofshalle gleicht: Vielleicht sollte ich ein Lokal eröffnen, in dem Sissy und andere schöne Frauen nebst Geweihen von jagdbarem Wild hängen: jeden Freitag wäre dann eine Gesprächsrunde über die Schönheit der Frauen, die Jagd generell und die Möglichkeit, sich dabei ein Geweih einzuhandeln. Vielleicht auch eher über etwas Anderes.
 

Add to Technorati FavoritesMy Popularity (by popuri.us)

twoday.net AGB

xml version of this page

powered by Antville powered by Helma