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Als ich in den 50ern in Deutschland Schüler war, wohnte in der Lehrerschaft noch eine Mischung aus bürgerlichen Traditionen, nationalistischer Vergangenheit und neuem Aufbruch. Letzterer führte dazu, Kritik zu lehren, doch wie? Unsere Kultur erfand die „konstruktive Kritik“, also die Möglichkeit, etwas zu kritisieren, wenn die Kritik mit einem konstruktiven Vorschlag zur Veränderung verbunden ist. Damit wurden die jungen Menschen mundtot gemacht: Schließlich verstanden sie nicht genug von den Dingen, um genügend konstruktiv sein zu können.

Die jungen Leute hatten freilich gut gelernt: Ende der 60er Jahre begannen sie mit allerlei Manifesten in der Hand, die immer noch junge Republik zu kritisieren: und diesmal hatten sie Alternativen, wenngleich diese oft nicht sehr konstruktiv waren. Aber dennoch: Kritik wurde Mode, und die Alternativen konnten in beliebigen Blumenfeldern bestehen, die irgendwelche Randsiedler züchten wollten: Alles schien zu gehen.

Seit etwa Mitte der 80er ist das „alles geht“ in „keine Kritik an niemandem“ umgeschlagen – oder besser: hinzugekommen, denn natürlich gab und gibt es auch heute noch Kritiker und Mahner, die konstruktiv sein wollen und solche, die sich auf Dogmen berufen und starr auf deren Einhaltung drängen.

Neben all dem vergessen wir off, dass Kritik selbst eine Kunstform ist – bemerkt wird dies weniger in den Gazetten als in den modernen Unterhaltungsmedien: Wird sie rhetorisch perfekt vorgetragen, sehen Fernsehzuschauer plötzlich sogar Literaturkritik.

Der Sinn von Kritik ist freilich ein anderer: Kritiker nehmen etwas ernst, das andere ignorieren, und sie haben eine gute Absicht, die von ihren Gegner heftig angefeindet wird: Sie wollen die Kultur verändern, und, wenn es ihnen denn gelingt, hoffentlich verbessern.
 

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