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Wenn etwas passiert, was sogar ich für aktuell halte, dann vergesse ich oft, dass ich gar nicht gewohnt bin, die Dinge im gleichen Licht zu sehen wie der Rest meiner Kolleginnen und Kollegen. Also falle ich ein in ihre Pros und Kontras, sehe mir Gestik und Mimik an, bewerte mal nach diesem Kriterium und dann nach jenem – und vergesse doch eines: Das, was ich sehe, ist die Realität einer Flimmerkiste. Das stehen zwei Menschen auf einem Podium: eine Frau und ein Mann. Sie tun etwas, das man Wiener Oberkellnern nachsagt: Leidlich erfolgreich Wiener Oberkellner zu spielen. Die Dame spielt eine Kanzlerkandidatin, der Herr einen Kanzler: Sehen ganz echt aus, die beiden.

Ja, sie spielen, um uns zu gefallen. Sie denken, dass wir denken, sie würden uns gefallen, wenn sie so spielten. Warum spielen wir mit? Morgaine sagte sinnigerweise „wir wollen wissen, was die beiden Kandidaten in Wirklichkeit denken. Wir wollen wissen, ob bei ihnen Handeln und Wille, Handeln und Gefühl übereinstimmen“

Stimme ich dem zu? Was ist, wenn wir die Puppe entlarven, eine Puppe zu sein? Die meisten Menschen wissen, was dann passiert: In der Puppe ist eine Puppe ist eine Puppe ist eine Puppe. Schließlich blicken wir auf eine entblößte Kreatur, so wie wir alle eigentlich nichts als Kreaturen sind. Und? Bringt uns das weiter? Früher spielten die Anhänger eines Herrn Perls gerne „Zwiebelschälen“. Das klang gut: Schale ab, gucken, was drunter ist.

Wissen sie, was drunter war? Eine andere Schale und darunter wieder eine. Das ganze „Zwiebelschälen“ diente nicht der Wahrheit, sondern war Seelstriptease zugunsten eines Publikums, das sich zwar morgen auch schälen musste, darin aber bereits routiniert war.

Wollen wir, mit Verlaub, wirklich wissen, was Frau Merkel oder Herr Schröder „in Wirklichkeit“ denken? Ich nicht. Ich will, dass ein Arzt eine zutreffende, kluge Diagnose stellt oder ein Architekt ein schönes, aber dennoch solides Haus baut. Ich kann darauf verzichten, zu wissen, was er oder sie wirklich denkt. So ist es auch bei Frau Merkel: Ich will, dass sie eine gute Politik macht - und auf einen Blick in ihre Seelenleben verzichte ich dankend.

Die Frau wird noch oft auf der Bühne stehen, von dem Mann glaubt es kaum noch jemand. Die Dame wird nach der Kanzlerkandidatin, die eine Kanzlerkandidatin spielt, eine Kanzlerin sein, die eine Kanzlerin spielt. Ein bisschen umgewöhnen. Heute noch Kandidatin, morgen Kanzlerin. Mag sein, dass sie sogar noch lächeln lernt – das macht sich besser.
 

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