anstoss

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Wie ich bisweilen erwähne, bin ich kein Dichter, doch weiß ich, wo solche zu finden sind. Oder sollte ich sagen: Literaten? Texterzeuger?

Dieser hier schreibt eine Geschichte über kleinbrüstige Frauen, die alle die gleiche Eigenschaft haben: Sie bekommen einen Schluckauf. Wann, wie und unter welchen Umständen sollte man besser selbst lesen, und als Appetithappen vielleicht diesen Satz: „Memphis Slim ist seit zwei Jahren tot, und ich warte noch immer auf ihren Anruf.“ Erinnert mich an Georg Kreisler. Aber der wartete ja 18 Jahre.

Apropos 18 Jahre: So alt sollte man nach Meinung des Betreibers der Seite sein, wenn man dort einfliegt.

Wie aus dem Bericht eines Gay-Magazins hervorgeht, weiß der belgische Kardinal Gustaaf Joos, dass Schwule nicht wirklich schwul sind, sondern zu „90 bis 95“ Prozent pervers – nur der klägliche Rest sei „wirklich“ homosexuell. Der 80-jährige sagte der AFP, er sei bereit, dies „mit seinem eigenen Blut“ zu unterschreiben.

Sehpferd meint:

Nun, es nützt nichts, Herr Kardinal, wirklich nicht: Ob sie nun mit Blut oder mit Tinte unterschreiben – wenn sich jemand zu etwas bekennt, dann ist er es auch. Sollte ein Christ eigentlich nicht bezweifeln, oder? Sonst könnten wir ja auch behaupten, lediglich 5 – 10 Prozent aller Christen seien wahre Gläubige. Das würde irgendjemand bestimmt auch unterschreiben, möglicherweise sogar ein Christ. Dennoch würde ich Tinte empfehlen.

Mir klingt in den Ohren etwas nach: Man müsse die Gefühlsäußerungen der Menschen als wertvoll hinnehmen, weil sie doch authentisch seien.

Szenenwechsel: das so genannte „Dritte Reich“. Damen schrieben glühende Liebesbriefe an Herrn Hitler, boten ihm Herz und Seele und (relativ häufig) auch ihren Körper an. Alles authentische Äußerungen von Damen aller Stände und Bildungsschichten.

Mein Misstrauen gegenüber den in manchen Blogs und anderen zeitgenössichen Äüßerungen aufkommenden Gefühlswallungen sind durch diesen Beitrag nicht eben kleiner geworden, wenngleich ich Unterschiede durchaus erkennen kann.

Allerdings ergibt sich daraus eine neue Fragestellung: Darf man, soll man, oder muss man gar in die Öffentlichkeit gebrachte Gefühle kritisieren?

(Die Frage wurde am 25.02.2004 ergänzt, ebenso wurde eine marginale Korrektur an der Aussage vorgenommen).

Früher verlangte man von Frauen Keuschheit, heute erwartet man, dass sie tun, was sich schickt (permissiveness), stellt eine Kolumne des kanadischen Kolumnisten Craig MacInnis in der Montreal Gazette fest und räumt ein bisschen auf mit der Vorstellung, wie fest gefügt das Sexualleben in früheren Zeiten war, in denen man sich angeblich noch züchtig verhielt. Interessant vor allem, weil ihm einen Teil davon seine heute 80-jährige Mutter erzählt hat.

„Jeder, der in Brasilien von Abstinenz und Keuschheit spräche, würde angesehen, als käme er von einem anderen Planeten“, schimpfte nach einem Pressebericht Jesús Hortal Sánchez, seines Zeichens Rektor der Päpstlichen Katholischen Universität zu Rio.

Hintergrund ist die nach wie vor schwelende Kontroverse um eine Sambaschule, um Aids und um Kondome. Indessen fällt die Zensur mild aus: Man habe nur ein „paar Blätter, Reben und Wurzeln“ um die Darstellungen aus dem Kamasutra gerankt, die von der „Academicos do Grande Rio“ Samba-Schule gezeigt würden. Offenbar hat man sich auch nicht verbieten lassen, Adam und Eva bei ihrer biblischen Begegnung zu zeigen.

Der Streit zwischen Staat und Kirche wird freilich auch nach dem Karneval weitergehen: Gegenwärtig gibt der Staat an die Bevölkerung des Landes 300 Millionen kostenlose Kondome aus – eine Notwendigkeit in einem Land mit einer extrem hohen Aids-Rate. Doch das will die Katholikenkirche nicht wahr haben: Sie verweist auf die besondere Verantwortung für die Jugend, die durch Kondome nur zum Geschlechtsverkehr angeregt würde.

Die Fotografin Alice Hawkins hat eine 2-tägige Mammutschau hinter sich: Vom 12. bis zum 13. Februar dieses Jahres fotografierte sie sich selbst und andere im Londoner "Showstudio". Das Ergebnis ist detailliert und vielfältig auf der Webseite von Showstudio.com zu sehen und bietet nicht nur den Freunden erotischer Fotografie, sondern jedem Kunstliebhaber einen tiefen Einblick in die Möglichkeiten moderner Porträt-Fotokunst.

alice

No. 112

(c) 2004 by Alice Hawkins

Diskutiert worden ist es schon oft, auch hier: Das „vollständige Verstehen“ einer anderen Person wird, vor allem in deutschsprachigen Ländern, als Krone des Menschseins angesehen. Dem wäre kaum etwas hinzuzufügen, wenn klar wäre, was „vollständiges“ Verstehen eigentlich bedeutet: Es ist mehr als Mitfühlen und geht sogar noch über das Einfühlen hinaus: Letztlich bedeutet es: Fühlen, genau so, wie der andere fühlt. Andere mögen nun darüber urteilen, ob dies in der Welt möglich ist oder eher in den Bereich der Utopien gehört, doch eines ist sicher: Unter Menschen, die anwesend sind, ist es eher möglich, ehrlich mitzufühlen als in der Denkwaschküche „Internet“.

Immer, wenn vom „Fühlen“ die Rede ist, steht auch die Tür zum Kitsch offen: Statt zu verstehen, werden Gefühle als Selbstzweck verherrlicht und nachträglich schön bemalt wie die Ostereier. Nichts geht den oberflächlichen Menschen so schnell über die Hirn-Sprache-Schranke wie Mitgefühl: „ich verstehe dich sehr gut“ ist einer der Sätze, die wir besonders leichtfertig auf den Lippen führen. Da viele Menschen ihn auch benutzen, wenn sie so gar nichts verstanden haben, ist er eben auch eine Lüge. Bei dieser Gelegenheit sollten wir nicht vergessen, dass „Verstehen“ auch eine Technik ist: Ein Gesprächspsychotherapeut braucht nicht unbedingt zu verstehen, er muss nur durch sein eigenes Verhalten bewirken, dass sich ein anderer versteht.

In unserem Alltag überprüfen wir ohnehin kaum, ob wir wirklich verstanden werden: Wir wünschen uns vom anderen, uns das Gefühl zu geben, verstanden worden zu sein: das mag ein pragmatischer Ansatz sein, der gelegentlich weiterhilft – er bringt aber keinerlei (Er)Kenntnisse über unser tatsächliches Erleben. Es bleibt, wie es immer war: Erkenntnis ist ein verdammt hartes Stück Arbeit und nur schwer zu gewinnen, während Sprüche schnell dahin gesagt sind.

Mein Fazit: Wir alle gewinnen durch echtes Mitgefühl, doch wir verlieren, mindestens langfristig, durch Gefühlskitsch, der, dies gebe ich gerne zu, auch ab und an wohl tun kann - er bildet aber leider nicht.

Als ich in den 50ern in Deutschland Schüler war, wohnte in der Lehrerschaft noch eine Mischung aus bürgerlichen Traditionen, nationalistischer Vergangenheit und neuem Aufbruch. Letzterer führte dazu, Kritik zu lehren, doch wie? Unsere Kultur erfand die „konstruktive Kritik“, also die Möglichkeit, etwas zu kritisieren, wenn die Kritik mit einem konstruktiven Vorschlag zur Veränderung verbunden ist. Damit wurden die jungen Menschen mundtot gemacht: Schließlich verstanden sie nicht genug von den Dingen, um genügend konstruktiv sein zu können.

Die jungen Leute hatten freilich gut gelernt: Ende der 60er Jahre begannen sie mit allerlei Manifesten in der Hand, die immer noch junge Republik zu kritisieren: und diesmal hatten sie Alternativen, wenngleich diese oft nicht sehr konstruktiv waren. Aber dennoch: Kritik wurde Mode, und die Alternativen konnten in beliebigen Blumenfeldern bestehen, die irgendwelche Randsiedler züchten wollten: Alles schien zu gehen.

Seit etwa Mitte der 80er ist das „alles geht“ in „keine Kritik an niemandem“ umgeschlagen – oder besser: hinzugekommen, denn natürlich gab und gibt es auch heute noch Kritiker und Mahner, die konstruktiv sein wollen und solche, die sich auf Dogmen berufen und starr auf deren Einhaltung drängen.

Neben all dem vergessen wir off, dass Kritik selbst eine Kunstform ist – bemerkt wird dies weniger in den Gazetten als in den modernen Unterhaltungsmedien: Wird sie rhetorisch perfekt vorgetragen, sehen Fernsehzuschauer plötzlich sogar Literaturkritik.

Der Sinn von Kritik ist freilich ein anderer: Kritiker nehmen etwas ernst, das andere ignorieren, und sie haben eine gute Absicht, die von ihren Gegner heftig angefeindet wird: Sie wollen die Kultur verändern, und, wenn es ihnen denn gelingt, hoffentlich verbessern.

 

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