anstoss

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Da war er wieder, der Arroganzvorwurf, der Alles-Totschlag-Vorwurf, der Nichts-Gelten-Lassen-Wollen-Vorwurf.

Ich wollte es eigentlich erst morgen bringen: Streiten ist ein Stück Kultur. Streitkultur eben. Ich bin gewohnt, die kühnen Thesen zu vertreten. Manchmal komme ich damit durch, manchmal nicht. Oft erzeugen sie Aggressionen, doch ebenso oft erzeugen sie Innovationen.

Sehen sie, meine lieben Leserinnen und Leser, ich will das Beste für uns alle. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diejenigen das Beste wollen, die dem jeweils neusten Trend folgen – ein bisschen nützt das Alter schon, um die Reflexe von den Lichtquellen unterscheiden zu können.

Wenn sie ein Junggeselle sind, und ihnen mangels eines geeigneten Characters die passende Dame fehlt, sie aber dennoch niemals ohne Gesellschaft sein wollen, können sie zweierlei tun: Entweder verlockende Blogs eröffnen, die Frauenherzen zum Überkaufen bringen oder aber eine ganz und gar plastische, lebensnahe Dame in Japan bestellen. Wenn sie dann auch noch etwas Fantasie haben, können die selbige Dame sogar im Bad beobachten.

Von der Webseite des "Real Doll Museums".

(Die Animation lädt langsam)

Wer bloggt, tut dies aus einem Motiv heraus. Ich will hier keine Motivforschung betreiben, mir reicht die Tatsache, dass kein Mensch etwas tun würde, wenn er keinen Beweggrund hätte. Nehmen wir einmal an, eine Dame hätte ein Blog mit einem Artikel eröffnet, der sie als unberechenbare Zicke darstellt. Nehmen wir nun an, auch die nächsten beiden Beiträge wären in dem Stil, dann hat sie Kunden – eine Leserschaft nämlich, die genau dies erwartet: Beiträge einer unberechenbaren Zicke, denn das ist genau das, was ihr Publikum lesen will.

Sie wird sich daran gefallen, im Web diese Zicke zu sein und alles daran tun, um diesen Ruf zu wahren, aber stets behaupten, sie schreibe nicht deswegen, sondern ausschließlich, weil sie gerne schreibe. Dieser Satz ist schon eine Manie geworden: Ich schreibe ja alle dieses nur, weil ich gerne schreibe.

Wissen sie, liebe Leserin, lieber Leser, diese Sätze sind ein bisschen auch Selbstbetrug. Man ist in ein Fahrwasser hineingeraten, und das eigene Boot schwimmt ganz gut auf diesen Wellen. Man bekommt Aufmerksamkeit: 20 Feedbacks sind schon ausgezeichnet, 50 schon königinnenlich, und wer gar über 100 bekommt, der darf schon in den Wolken des Bloggerhimmels schweben.

Glaubt ernsthaft jemand, solche Zahlen will man sich nehmen lassen? Glaubt wirklich jemand, nun schriebe man nur noch für sich? Denkt niemand mehr daran, dass es kybernetische Rückbezüge gibt?

Dass wir alle Kunden haben, merken wir erst, wenn wir den Stil wechseln. Wir die im Beispiel genannte unberechenbare Zicke plötzlich nachdenklich, ändert sie deutlich ihr Feind- und vor allem ihr Freundbild, dann verrinnen ihr die Leserinnen und Leser unter den Händen. Gewiss, es kommen ein paar Neue hinzu, aber nichts bleibt, wie es einmal war: Wir haben nämlich nicht nur Kunden, wir haben sogar Markennamen.

In diesem Sinne, liebe Mitmenschen – behauptet bitte nicht immer, ihr schreibt nur, um zu schreiben.

Ein heftiger Hieb, dann mit durchaus empfindungerechter Verzögerung ein halb lustvoll, halb gequält klingender weiblicher Schrei – die Prozedur wiederholte sich nochmals.

Schlafbrüchig tapste ich in meinen Wintergarten, und sah das erschreckende Schauspiel: Eine Herr und eine Dame saßen am Küchentisch. Er klatschte in die Hände, danach ließ sie den empfindungsgerecht verzögerten Schrei heraus.

Angesichts meines wenig bekleideten Zustandes habe ich nicht applaudiert.

In keinem Bereich des Internets weicht die Realität so stark von den Behauptungen ab wie bei Blogs – sollte ich dazu sagen „bei deutschen Blogs“? Ja.

Deutsche Blogger bellen nämlich den Mond an, jedenfalls überwiegend, und der Mond antwortet bekanntlich nicht. Selbst eine Erwähnung beim Schockwellenreiter, einst ein Garant für die rasche Popularität, erweist sich inzwischen als Schwache Droge. Wird man hingegen auch nur in der kleinsten Online-Publikation der Presse in irgendeinem verborgenen Winkel erwähnt, hat man Leser in Massen.

Die Gründe dafür mögen vielfältig sein – schließlich gibt es eine Anzahl durchaus interessanter deutscher Blogs, doch zunächst einmal muss man feststellen: Blogs befinden sich gegenwärtig in Deutschland in einer (möglicherweise typisch deutschen) Sinnkrise. Kaum jemand weiß, warum er sie betreibt, und kaum jemand beachtet sie wirklich.

In einem kürzlich erschienenen Artikel bei Heise wurde vermutet, dass dies mit der fehlenden Diskussionskultur in Deutschland zusammenhängen könnte – oder vielleicht gar damit, dass dem Deutschen eine wirklich freie Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit immer noch fremd ist, während seine Befindlichkeit schon eher Gegenstand öffentlichen Interesses sein darf.

Falls sie mich fragen sollten: Ich habe noch kein Mittel dagegen gefunden. Doch ich meine, je interessanter und vor allem eindeutiger eine Information für unsere Kunden ist, umso mehr werden wir beachtet.

Sagte ich „Kunden“? Natürlich. Die Leserinnen und Leser sind unsere Kunden. Für sie schreiben wir – nicht für uns.

Dieter Hundt hat starke Worte gefunden: Er fände es zum Kotzen, was derzeit in der Republik abliefe, erklärte er im ZDF. Ich kann ihm nur aus tiefstem Herzen beipflichten. Vielleicht sollten die Deutschen inzwischen gelernt haben, dass ihre gegenwärtige Geisteshaltung in der Welt nicht mehr verstanden wird. Statt endlich unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen, wird in diesem Land über Grundsätze salbadert - pragmatisch zu handeln, scheint uns nicht gegeben zu sein. Die Ideologen, Moralisten und Bekenner kommen zurück – und bringen neuen Stillstand, wenn nicht gar Rückschritt.

Indessen macht der linke Scharfmacher Oscar Lafontaine wieder von sich reden: Würden seine Forderungen in Deutschland Wirklichkeit, dann wäre Deutschland als Wirtschaftstandort mit Sicherheit bald im Eimer – die Unternehmer, die er abschröpfen will, würden sich dann nämlich anderwärts niederlassen. Aber das interessiert die Linkssozialisten und ihre Helfershelfer in den Gewerkschaften offenbar ohnehin schon nicht mehr. Indessen: Wer so denkt, der wird schon bald die Zeche zahlen müssen: Je mehr den Unternehmern Deutschland als Standort vermiest wird, umso mehr werden sie ins Ausland gehen, wo sie freudig als Arbeitgeber aufgenommen werden: Am Ende wären die deutschen Arbeitnehmer die Gelackmeierten.

Wer nun wieder meint, das wäre eben der böse Kapitalismus, dem muss entgegengehalten werden: Es werden Mittelständler und auch kleinere Unternehmen sein, die abwandern. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass 50 Prozent als Spitzensteuersatz ein attraktives Angebot der Bundesrepublik Deutschland an seine Unternehmer ist?

Sozialismus ist eine Ideologie von vorgestern. Sozialdemokratie ist eine Idee von gestern. Wo bitte, ist eigentlich die Idee für heute?

Eines muss man diesem Müntefering lassen – er hat eine Diskussion hervorgerufen, die auch noch den kleinsten und biedersten Stammtisch erregt. Ich merke es an den Leserbriefspalten. Wenn da einmal einem Politiker zugejubelt wird, spricht wahrlich Volkes Stimme. Das Volk, bar jeder Kenntnis des Wirtschaftssystems, sieht es so: die Wirtschaft ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Wirtschaft“. Sehen sie, liebe Leserinnen und Leser, das ist so ein Satz, dem mal endlich alle zustimmen können. Alle diejenigen jedenfalls, die nicht eben stolzer Besitzer eines kritischen Verstandes sind.

Zunächst einmal ist dies richtig: der Mensch ist das Maß aller Dinge, und nur er bringt die Steine ins Rollen. Der Mensch ist also dazu da, zu handeln, und gleich, ob er Agrarier, Händler oder industrieller Produzent ist – er ist in jedem Fall dazu da, etwas zu erwirtschaften. Der Mensch ist also für die Wirtschaft da, denn er ist ihr Urheber – wer es nachlesen will, darf sogar die Genesis zur Hand nehmen – da steht es schon.

Die Wirtschaft, die so entsteht, ist natürlich auch für den Menschen da – für wen sonst? Jede Wirtschaftstätigkeit zielt auf den Menschen. Er ist Verbraucher, Empfänger, Nutznießer. Dennoch muss man sähen, bevor man ernten kann.

Der Mensch, der von der Wirtschaft profitiert, muss sich freilich auch wieder in eben diese Wirtschaft eingliedern. Er muss nämlich für die Wirtschaft da sein, als Arbeitskraft und potenzieller Unternehmer. Der Mensch, wir erkennen es leicht, ist in viel höherem Maße für die Wirtschaft da als die Wirtschaft für den Menschen.

Dennoch, liebe Leserinnen und Leser, ist auch solch eine Betrachtungsweise unsinnig. Seit Menschen nämlich Erfolg auf diesem Planeten haben, betreiben sie „Wirtschaft“. Ein Mensch zu sein heißt bereits seit vielen, vielen Jahrhunderten ein Teil eines Wirtschaftssystems zu sein, es ei denn, sie wären ein Einsiedler und würden sich von den Früchten des Waldes ernähren. Menschsein heißt Wirtschaft betreiben und Wirtschaft betreiben heißt Menschsein. Unser nächsten Verwandten, die Menschenaffen, betreiben keine Wirtschaft. Neandertaler haben sie auch nicht betrieben. Wir sehen, was aus ihnen allen geworden ist.

Die Wirtschaft verändert sich – und Deutschland fährt mit dem Ballast der Gutmenschenmentalität hinterher. Und die heißt: Die Wirtschaft ist für den Menschen da. Es ist, mit Verlaub, ein selten dummes Geschwätz.

Was der Kapitalismus damit zu tun hat? Gar nichts. Das Wort ist billig, denn man kann es umsonst in den Mund nehmen. Wie man sieht, kann man es sogar so verbreiten, dass ein Lauffeuer daraus wird – es gibt eben immer Dumme, die alles nachschwätzen. Gewonnen, Herr Müntefering – Volk bewegt. Nur leider mit den völlig falschen Themen.

 

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