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Ich habe das Wort „aufsagen“ schon lange nicht mehr gehört, aber dies weiß ich noch genau: Dass wir Kinder uns früher bei den Großeltern immer unter den Weihnachtsbaum stellen mussten und unser Gedicht aufsagen: Es war vielleicht sogar einmal „denkt Euch, ich habe das Christkind gesehen“, obwohl eben jener blonder Flatterfratz bei uns in Norddeutschland gar nicht vorkam – und deshalb verstand dieses unsägliche Gedicht auch niemand. Das mag in Süddeutschland anders sein, wo ja jeder schon mal ein leibhaftiges Christkind auf dem Boden gesehen hat – nur beim Schwirren durch die Luft, da ist es eben schwer zu beobachten, dieses Christkind.

Also: Möglichst Mädchen sein, dann in Pose gehen (seht mal, wie wichtig ich bin) die Augen möglichst weit aufreißen, aber dabei versuchen, natürlich zu sein, Großeltern anblicken: „Denkt Euch“ ... dann den Blick wieder nach vorne, „ich habe“ in Alltagssprache, dann „das Christkind“ mit leicht gehobenem Kopf, beide Wortteile getrennt betonen, also Christ-Kind, beim „Ch“ den Blick verklärt nach oben richten, glücklich lächeln, und beim „gesehen“ schließlich den Sternenhimmel in den Köpfen leuchten lassen.

Ja, so war es, aber irgendwie anders. „Ihr müsst die Gedichte mit Betonung aufsagen“ lernten wir bei der Volksschullehrerin – und als wir eben jenes Gelernte dem Herrn Studienrat präsentierten, verbesserte er uns scharf: Ihr müsst den Sinn begreifen, das Gedicht in eurem Inneren fühlen und und es dann sprachlich gestalten.

Na klar. Ich wollte aber weder Schauspieler werden noch kam ich von drauß', vom Walde her, und den einzigen Wald, den ich bis dahin ernstlich wahrgenommen hatte, war der Stadtwald zu Bremen – und aus dem kam man nicht von „drauß“, sondern wartete an der Haltestelle auf den Autobus.
 

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