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Das wöchentliche Geblubber aus den Algen – meist sonntags

Es gab einmal eine Zeit Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als alle Welt glaubte, man müsse sich nun über die psychischen Prozesse, klar werden, namentlich über unsere (zuvor etwas vernachlässigte) Gefühlswelt. Bis dahin geltende Regeln und Normen wie zum Beispiel das Schutzbedürfnis der Privatsphäre oder die Konversationsregeln, aber auch regionale Besonderheiten wurden als ungültig erklärt und über den Haufen geworfen. Es gab kaum einen Fernseh- oder Rundfunksender oder eine Illustrierte, der nicht bei der Gefühlsmasche mitmachte, und plötzlich entstand eine Flut von Büchern, die alle nur ein Thema hatten: Psychologie (oder jedenfalls das, was die Autoren dafür hielten), bis es schließlich Bücher über diese Bücher gab – der Psychoboom trieb merkwürdige Blüten – inklusive der Flüge angeblich namhafter Psychotherapeuten nach Poona, die sich anschließend in orange Gewänder hüllten und sich merkwürdige Beinamen gaben.

Heute sind wir uns wenigstens wieder darüber klar, dass ein Engländer anders kommuniziert als ein Italiener, und dass sich die Verhaltensweisen eines Finnen sowohl von denen des Engländers wie auch von denen des Italieners unterscheiden – und wir respektieren auch sonst wieder die Unterschiede zwischen Menschen, die eben nur im psychologischen Gefühlskitsch alle gleich waren, in ihren realen, differenzierten Gefühlen aber durchaus unterschiedlich.

Ich muss Ihnen sagen, warum ich das schreibe: Wie nämlich die große Mehrheit an dergleichen nicht interessiert war, ja, die ganze Entwicklung schlicht ignoriert hat – und sie hat keinen Schaden daran genommen. Es war ein reines Produkt des Zeitgeistes, das religionsähnliche Gruppen und geschickte Geschäftemacher dazu nutzten, sich entweder wichtig zu machen oder gewaltig abzusahnen. Die Imperien brachen beinahe schlagartig zusammen und mit ihnen die Gurus, die in den Großstädten falsche Predigten zugunsten der neuen Psychoreligionen hielten – und ein bisschen roch alles nach Betrug.

Warum ich Ihnen das nun wieder erzähle? Weil es angeblich eine wichtige soziale Idee war, eine, die Menschen vereinte. Wie eben auch die Blogmanie mit allen ihren falschen Perlenketten, die sich die Animateusen und Animateure umhängen, ihrem ständigen Gebrabbel von sozialer Software und dem Willen, Menschen zusammenzubringen. Nein, es ist keine Luftblase, es ist eine religionsähnliche Verführung auf das virtuelle Glatteis des Web-Nirvanas, an dessen Ende die Vereinzelung, die Einseitigkeit und nicht zuletzt die Vereinsamung eher zu- als abnehmen wird.

Zu den Zeiten, zu denen ich weniger gründlich nachdenke, kann ich es auch einfacher sagen: Das Ganze ist, mit Verlaub, nicht viel mehr als ein Kaspertheater – und nur die Rollen von Kasper und Krokodil werden ständig neu besetzt.
david ramirer meinte am 22. Feb, 20:19:
verehrter herr sehpferd,
ihre gebetsmühlenartig immer sich selbst wiederholenden prognosen werden durch die leicht variierte repetition auch nicht wahrscheinlicher:

...es ist eine religionsähnliche Verführung auf das virtuelle Glatteis des Web-Nirvanas, an dessen Ende die Vereinzelung, die Einseitigkeit und nicht zuletzt die Vereinsamung eher zu- als abnehmen wird.

das vermuten sie. aber wissen tun sie es nicht.
sie glauben es. womit wir wieder bei der religion sind. 
sehpferd antwortete am 22. Feb, 20:57:
Mickymausgeschäft
Natürlich vermute ich es nur, und als Beweise würden Sie dies vielleicht nicht anerkennen: Über Chats (bei denen man sich ja noch etwas „näher“ sein dürfte als bei Blogs) wurde bereits prognostiziert, welche ungeheuren Möglichkeiten der Kommunikation es geben würde und wie stark es die Bindungen der Webbewohner aneinander festigen würde. Sie dürfen gerne einmal in ein paar Republik bekannte Chats gehen und solche Behauptungen überprüfen. Außer, dass Sie ihr blaues Wunder erleben über so viel Schwachsinn, werden sie dies hören: Ein paar Schwärmereien über Chatbekanntschaften und leuchtende Augen über Chattertreffen – damals, wisst ihr noch? Natürlich redet niemand über den Sozialmüll, der dabei eben auch entstanden ist, nicht von den Leuten, die man lieber nie kennen gelernt hätte, und schon gar nicht von dem Frust, der hinterher entstand.

Wissen Sie, ich kenne diese ganzen „neuen sozialen Ideen“ dieses Mickymausgeschäfts ja noch aus einer Zeit, als es noch nicht im Netz verbreitet wurde. Erinnern Sie sich noch an Wunsch- und Zweckfamilien? Generationsübergreifende Wohnprojekte? Die (mindestens teilweise) Ablösung des herkömmlichen Gesundheitswesens durch Selbsthilfegruppen und Gesundheitsläden? Das soziale Netzwerk Selbsthilfe? Ja, damals konnte man die Schwätzer noch an der Krawatte ziehen und sagen: „Na, wann machst du es denn nun?“ Doch heute kann man durchs Netz quack-quacken wie Donald Duck im Film und über soziale Software salbadern - und wissen, dass man morgen schon nicht mehr danach gefragt wird, was man heute sagte, geschweige denn, dafür auch nur sachte zur Verantwortung gezogen zu werden. Man schließt einfach sein Blog und verschwindet.

Lassen Sie mich abschließend noch sagen, dass ich weiß, wovon ich rede - schließlich war ja lange Zeit bei den Schnatterern. Die größten Kritiker der Elche waren eben früher selber welche. 
david ramirer antwortete am 22. Feb, 21:21:
dass sie wissen wovon sie sprechen
und viel ahnung von kommunikation und ihren auswüchsen haben, stelle ich nicht in frage.
mich verwundert nur, mit welcher "hartnäckigkeit" (ich stelle dieses wort deswegen in anführungszeichen, weil der begriff m.e. hier nur bedingt passt) sie bestimmte begriffe aufnehmen und immer wieder zu belegen versuchen, warum diese begriffe nicht passen, nicht umsetzbar sind, warum bloggen eine totgeburt ist, weswegen die ganzen sozialen netze nur schaumburgen sind, dass die rechnung nicht aufgehen kann, usw.
die bloggerwelt ist - da gebe ich ihnen recht - voll von krawattenträgern und sandalenfreaks, voll von mickymäusen und donalds, voll von fußballern, onanisten und kreativen halbblutindianern. ein haufen spinner - und ein haufen denker - blasen ihre elaborate ins digitale universum (von dem ja das nirvana, metaphysisch betrachtet, auch ein teil ist - irgendwann). die relevanz von all dem kann natürlich hinterfragt werden: aber kann nicht genauso gut die relevanz von allem hinterfragt werden? die selbe mischung von wahnsinn und vernunft sehe ich jeden tag bei einem spaziergang durch eine beliebige stadt. soziale netze sind auch dort klein oder groß, eng oder weitmaschig geknüpft. es steht vielleicht keine durchkomponierte idee dahinter, aber es gibt diese netze. die blog/chat/foren/whatever-strukturen sind keine organisierte angelegenheit, vielmehr ein organisch wucherndes gebilde, genauso zweckfremd wie die welt, in der wir leben.
ihr aufgreifen eines geblubbers von irgendwo in diesem geblubber, die kritik und demaskierung dieser worthülsen erscheint mir wie ein kampf gegen windmühlen, die eben keine riesen sind.
ja, nicht einmahl windmühlen sind, weil unten kein mehl, und schon gar kein brot, herauskommt. 
sehpferd antwortete am 22. Feb, 21:34:
Sie sprechen mir aus dem Herzen ...
... und haben Recht, wenn sie sagen, dass unten kein Mehl herauskommt. Mir scheint, es geht nicht um Windmühlen, sondern um Windmacher. Und ich habe nun mal ein Auge auf diese personifizierten Blasebalge geworfen, so, wie ich einst ein Auge auf die anderen Heilsbringer hatte. 
 

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