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Wenn die Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt der Theaterintendantin des dort ansässigen Schauspielhauses einen wütenden Brief schreibt, in dem (laut FAZ) solches steht: „Das Verhalten des Schauspielers Thomas Lawinky gegenüber dem (FAZ-)Kritiker Gerhard Stadelmaier ... ist „unverzeihlich“.. und ... sie gehe davon aus, dass die Intendantin diesem Urteil nicht widersprechen werde", dann ist das Maß staatlicher Arroganz übervoll.

Denn egal, was passiert ist: Das eigene Urteil steht jedem Menschen frei, und es wird in diesem Land nicht von einer Oberbürgermeisterin bestimmt., wer wann was denken darf oder nicht.

Die FAZ denkt darüber anders und versucht, möglichst viel Rauch und Theaterdonner in die Händel zwischen dem Schauspieler und ihrem Theaterkritiker zu bringen, damit das Thema nach außen wirkt – wo es nun wirklich nicht hingehört. Nicht einmal die Leser goutieren es. Leser Maurice Keller schreibt: „Und: Wenn schon so ein Vorfall ausreicht, um „Entsetzen“ bei Frau Roth auszulösen, stimmt etwas mit ihr nicht. Die arme Frau muss ja in einem ständigen emotionalen Ausnahmezustand leben.“

Die schreibenden Konkurrenten von der „Frankfurter Rundschau“ kommen solche Vorfälle freilich gerade Recht, den Vorfall mit Häme zu beträufeln und ihn das zu nennen was er ist: eine Posse.

Wer in der Bundesrepublik nach Parallelgesellschaften sucht, braucht nicht erst bei der Nachbarreligion herumschnüffeln: Christliche Sekten, die sich auf das berufen, was sie unter Gottes Gesetzen verstehen, gibt es schließlich zur Genüge. Die Staatsanwaltschaft in einem Hamburger Prozess hat nun eines klar gemacht: „Die Allgemeinheit (hat) ein berechtigtes Interesse daran ..., religiösen Parallelgesellschaften entgegenzuwirken“. Gemeint waren christliche Sektierer, die sich weigerten, ihre Kinder in die Schule zu schicken.

Nun wollen diese Eltern, um die es geht, ihre vermeintlichen Rechte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagen, wobei zu fragen wäre: Haben eigentlich nur Eltern Menschenrechte? Vielleicht sollten sich diese Eltern einmal überlegen, dass auch Kinder Menschenrechte haben – und die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist in einem isolierten christlich-sektiererischen Haushalt nun einmal nicht gewährleistet.

Der Chefredakteur von „Psychologie heute“ schreibt:

Distanz- und Geheimnislosigkeit sind das beste Rezept, um Beziehungen zu zerstören. Wir brauchen heute mehr denn je eine geschützte Zone in unserem Leben, wir brauchen zumindest die Chance, Geheimnisse zu haben und zu bewahren. Denn sie sind weit mehr als nur „Privatangelegenheiten“, sie sind eine psychologische Notwendigkeit.

Hätte er dergleichen in der „Enthüllungszeit“ der Selsbsterfahrunsgruppen geschrieben, er hätte sich der Leserbriefflut wütender „Zwiebelschäler“ kaum erwehren können – und er hätte vermutlich in der nächsten Ausgabe einen neuen Leitartikel mit einem Spagat zwischen Zeitgeist und Auflagenhöhe machen müssen.

Was wir daraus lernen können? Psychologen weniger ernst zu nehmen und ihre Ergebnisse zu einem großen Teil als Folgen des Zeitgeistes anzusehen. Was bleibt, entscheidet die Zeit.

Ich lese auch die Literatur jener, die über das Menschsein ganz andere Auffassungen habe als ich, zum Beispiel die Fraktion der positiven Denker, die eigentlich nicht „positives Denken“ proklamiert, sondern einen Süßbrei unter dem Etikett „Ich bin O.K. – du bist O.K.“ vermarktet.

Sätze mit „obwohl“ wagen die meisten Menschen ja heute schon überhaupt nicht mehr zu sagen – oder vielleicht haben sie es auch gar nicht mehr gelernt. Jedenfalls sollten Sie manchen Menschen vielleicht so gegenübertreten:

Obwohl du sicher O.K. für dich selbst bist, sind deine Angebote an mich noch lange nicht O.K. Ich sage dir „nein“, weil du selbst den weitaus höheren Gewinn daraus ziehst – und das ist für mich nicht O.K.

Die Psychologen lehren gerne: „Sagen Sie „ICH“, wenn Sie sich meinen, sagen Sie nicht „du, man oder wir“. Sollte ich jetzt zu meiner Frau sagen: „Ich will einmal im Jahr nach London fliegen!“

Sage ich es, dann fragt sie mich ironisch: „Würdest du mich eventuell mitnehmen?“

Also sage ich gleich: „Wir könnten eigentlich mal zusammen nach London fliegen“. Das ist natürlich völlig falsch, würden die Psychologen sagen, nicht nur wegen des Gebrauchs von „wir“, sondern auch, weil ich „eigentlich“ verwende – aber sehen Sie, das kann ich ertragen.

Warum ich das alles schreibe? Weil wir vorsichtig sein müssen mit dem, was wir lehren. Selbstverständlich kann es gut sein, im Gespräch gelegentlich zu sagen, was man selber denkt, meint oder fühlt – es unterstreicht die persönliche Anteilnahme.

Das gleiche „ICH“ kann aber auch selbstherrlich oder sogar kindisch wirken. Von erwachsenen Menschen wird erwartet, dass sie mehr tun, als uns mit dem vollzudröhnen, was ihr ICH uns alles sagen will. Wir erwarten, dass sie sich im Dialog für uns interessieren, nicht nur für sich selbst.

(Wortgleich in "Changes")

 

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