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Das wöchentliche Geblubber aus den Algen – meist sonntags

Mir wird immer deutlicher, wie tief ich mich in eine Scheinwelt hineinbegeben habe: Die Welt, die sich aus den Bestandteilen des Webs ergibt, ist eine andere als die, die ich mit Augen, Ohren und Haut erfahren kann. Nicht, dass ich es nicht schon vorher wusste – wie oft habe ich schon geschrieben, dass im Web eine Art Kasperltheater veranstaltet wird? Wie oft habe ich das Lied strapaziert, in dem es (dort mundartlich) heißt „Man braucht einen Kasper und eine Gretel, eine Großmutter und ein Krokodil“. Am besten geht die Show, wenn Gretels von Krokodilen bedroht werden: Dann kommen die Kasper von überall mit ihren Klatschen herbeigestürmt, Krokodile verprügeln. Das Publikum klatscht Beifall. Man packt die Kasperbude ein – man muss ja morgen wieder woanders spielen.

Ich fühle mich erinnert an Alice, als sie in die Spiegelwelt kommt: Dort spielt man zwar nicht Kaspertheater, aber Schach. Die Welt hinter den Spiegeln zerbricht, als Alice Königin wird – der Weg hinaus ist der Weg hindurch. Vielleicht könnte man die Spiegelweltbewohner durchaus mit den Menschen vergleichen, die sich in die Webwelt einkasteln: Erst, wenn sie hindurch sind, dürfen sie wieder hinaus – und manche bleiben lieber da, weil es bequemer ist. Die virtuelle Hängematte ist eben bequemer als die Konfrontation mit dem Dschungel da draußen – und dort ist es auch wesentlich schwieriger, wieder zu entfliehen, wenn einem der Tiger im Nacken sitzen sollte statt des Schalks.

Sehen Sie- das ist der Unterschied: Ihr Schachspiel im Web können sie immer wieder mit Figuren bestücken – Bäurinnen und Bauern finden sich leicht, Türme auf Zeit auch, Springer sowieso immer – die Königinnenrolle oder Königsrolle besetzen Sie selbst – und schon können sie spielen (und selbstverständlich schummeln) wie sie wollen. Im Web jedenfalls. In der Realität können Sie das nicht. Da muss der Fels in der Brandung schon stehen bleiben, wenn die Horde marodierender Bauern anrückt. Und man selbst? Passt denn die Königinnenrolle, die Königsrolle überhaupt?

Ist Kasper König? Ist Gretel Königin? Wenn man die Dinge in anderem Licht sieht, wird klarer, was man ist: ein Mensch eben. Jemand, der eine Hütte bezog dort im Dschungel und die Affenhaare dabei weitgehend verlor. Jemand, der vor einer Glaswand sitzt und sich dort eine Scheinwelt vorgaukeln lassen kann – oder auch eben nicht. Sagen Sie jetzt nicht, dass ja auch hinter der Glaswand nebenan ein nackter Affe sitzt, dem es genau so geht. Dazu müssen Sie ihn aber erst hervorlocken – und dann sind wir wieder da, wo sich die Welt mit Augen, Ohren und Haut erfahren lässt.
unkreativ.net meinte am 9. Apr, 10:09:
Sehr schön zu lesen. Und mit viel Wahrheit - und ein wenig Voreingenommenheit ;-) 
 

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