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Was mich an meinen Landsleuten stört, sin die vorschnellen Urteile. Besonders die Web-Generation scheint sich da ganz festgelegt zu haben. Erst urteilen – dann informieren – dann eingestehen, dass man gar nichts weiß – wenn es dann noch geht. Wer, wie ich, häufig kommentiert, weiß, dass man selber nicht davon frei ist.

Im Internet kommt Schein und sein sehr schnell zusammen. Gestern war es ein Lamento um ein gebrochenes Herz. Abgesehen davon, dass mir allein der Begriff nicht gefällt (ich bin Herzpatient, was manches erklären mag), ist es natürlich nur eine dichterische Metapher – und hat mit Gefühlen eigentlich gar nichts zu tun. Was man wirklich fühlt, wenn man mit dem vorgeblich gebrochenem Herzen daniederliegt, mag der beschreiben, der es gerade empfindet – und wenn er ehrlich ist, wird keinen solchen Schachsinn sagen wie „er hat mir das Herz gebrochen" – es sei denn, man wolle bei ein paar Pseudofreundinnen Tränen loswerden. Wer wirklich leidet, wird, sagen, was er fühlt, wie er es fühlt und welchen Schmerz es ihm bereitet.

Der Dame, die das vom Herzen so dahersagte, hatte ernstliche Schwierigkeiten – da war in Wahrheit eine Trennung zu bearbeiten – und da war eine Blockade, sich wirklich an sich selbst heranzutrauen. Sie bewegte sich offensichtlich in dem Status, der ein Entrinnen fast unmöglich macht: „Meine Trauer und meinen Schmerz kenne ich, und das alles drückt mir auf die Seele, aber all dies ist wenigstens bekannt – was sagt ihr? Ich soll es ändern? Dann müsste ich doch etwas Unbekanntes tun – könnt ihr mir wirklich garantieren, dass es dann besser wird?“

Ich hatte einen längeren Dialog mit der Dame, soweit man Interndialoge als solche bezeichnen kann, und fand wenigsten einige Grundzüge des Problems hinaus – und siehe da, die Dame suchte tatsächlich, wenn auch erst in Ansätzen, nach Lösungen. Vorläufig war die Devise allerdings noch: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Es wurde auch Zeit, dass sie ihre Probleme anging. Trennungsschmerzen solch heftiger Art sind nach 18 Monaten der Trennung eher ungewöhnlich. Ich denke, ich konnte ihr wenig helfen. Wer wirklich helfen kann, ist ein selbstloser Zuhörer vor Ort – es muss kein Psychotherapeut sein. Bei dieser Gelegenheit mag ich sagen, dass ich – trotz einiger Vorbehalte – immer noch besser finde, man geht zu einer Gruppe von Emotions Anonymous als gar nichts zu tun.

Um auf die Vorurteile zurückzukommen: Die Gemeinschaft (es war kein Psychotreffen) wollte nur Gefühle zulassen – keine Lösungen. Sehen Sie, und das hat mich zu dem gebracht, worüber ich heute schreibe: „Gefühle“ gibt es im Web im Dutzend billiger.Man kann über sie schwadronieren, bis die Augenlieder herunterfallen, notfalls per cut-and-paste. Man muss sich ja niemals, wirklich niemals verantwortlich zeigen. Mal auf der Durchreise ein paar Gefühlsbrocken hinterlassen. Morgen geht man in den nächsten Chat, das nächste Forum, das nächste Blog, Damen trösten. Kostet nichts. Ist, wie ins Kino gehen. Und notfalls eben: Cut-and-paste.
 

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