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Als das Weserwehr noch nach Generatoren roch und kaum ein Kahn über einen eigenen Antrieb verfügte, es aber dafür zwischen den Steinen der Badeanstalt noch Flusskrebse gab, ging der kleine Junge gerne an den Fluss, um die Schiffe zu beobachten: Meist waren es eben jene Schleppkähne, doch hin und wieder gab es durchaus schon einen Passagierdampfer.

Der kleine Junge liebte es, sich an einer Stelle zu postieren, die gegenüber der Schleusenausfahrt an der Unterweser auf der Altstadtseite lag. Teils, weil er in einem Alter war, in dem man noch keine weiten Wege alleine ging, und teils, weil er sich fürchtete, allein über die stählernen Pfade der Brücke zu gehen, die in mehreren Abschnitten über das Wehr und die Schleusen hinüberführte.

Als die Schlepper einmal besonders heftig bugsierten, beobachtete er, dass einer der Schlepper längere Zeit rückwärts fuhr. Er wandte sich an die hinter ihm stehende Gestalt, die sich als ein Herr in mittleren Jahren erwies, und fragte ihn, warum der Schlepper wohl rückwärts fahren würde.

Der Herr indessen hatte offenbar keine große Lust, dem kleinen Jungen etwas zu erklären. Vielleicht dachte er auch an den Krieg, die zerbombte Wohnung oder die Arbeitslosigkeit, aber dergleichen hatte den kleinen Jungen noch nie interessiert. Jedenfalls gab der Herr sich widerborstig und sagte: „Was willst du eigentlich, der Schlepper fährt doch vorwärts“.

In der Tat fuhr der Schlepper nun wieder vorwärts, aber der kleine Junge beharrte darauf, dass der Schlepper doch eben noch rückwärts gefahren sei, und dass er, der Herr, dies doch habe sehen müssen, da er schon lange hinter ihm gestanden hätte.

Der Herr reagierte unwirsch und erklärte lauthals, das könne er ja nun wohl besser beurteilen als ein kleiner Junge, und im Übrigen sage er jetzt zum letzten Mal, dass der Schlepper vorwärts gefahren sei.

Der kleine Junge drehte sich um, sah den Herren verachtungsvoll an und sagte mit fester Stimme: „Und ich sage jetzt zum letzten Mal: Der Schlepper ist rückwärts gefahren“.

Der Herr griff darauf hin zu seinem Spazierstock und murmelte etwas Unverständliches. Doch es war offenkundig, dass er sich über den kleinen Jungen ärgerte.

Der kleine Junge hat diese Geschichte später oft erzählt. Beim ersten Mal war der Mann noch ein „Leut“, und die Geschichte endete mit „und dann hat der Leut sich geärgert“. Ja, und nun erzählt er sie wieder – weil sie so typisch wurde für sein Leben, das zu einem großen Teil darin besteht, das angeblich Selbstverständliche zu bezweifeln.

Als der kleine Junge freilich älter wurde und dann noch etwas älter und schließlich so alt, dass er das alte, nach Eisen, Generatoren und Fischen riechende Weserwehr überlebte, setzte er sich eines Tages mit einem großen Glas Rotwein vor eine weiße Wand und wartete, bis der Schlepper wieder vorbei kam. Doch er sah nur das starre Bild, einer Fotografie gleich, denn der Dampfer wollte sich absolut nicht mehr bewegen.
 

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