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Das wöchentliche Geblubber aus den Algen – fast immer sonntags

Deutschland kommt in Bewegung. Nicht, dass immer sachgerecht diskutiert wird, das können wir nach den langen Jahren der Kohlschen „Aussitzpolitik“ gar nicht erwarten. Bedenken wir doch, dass nahezu eine ganze Generation am ehemaligen Kanzler gelernt hat: Diskutieren ist schlecht, entscheiden ist noch schlechter, und die Weichen umzustellen ist ganz schlecht.

Nein, wir haben verlernt, sinnvoll zu diskutieren, aber wir können es wieder lernen. Wenn jetzt ein dümmliches Gerangel um die 40-Stunden-Woche anhebt, dann müssen wir dies wohl positiv sehen: Gut daran ist nämlich, dass die Bevölkerung überhaupt wieder diskutiert, was der Einzelne leisten muss, damit es Deutschland besser geht, und nicht länger darüber, was „die da oben“ anders machen müssten, damit das Ruder herumgerissen werden kann.

Ich hörte einen jungen Mann in Leipzig reden, dass „se“ jetzt dies und jenes machen: Gutes wie Schlechtes. Nur, dass er keine Ahnung hatte, wer „se“ jeweils war, woraus „se „ besteht und wie „se“ finanziert wird. Dem jungen Mann war nichts vorzuwerfen, weil er es nicht besser gehört hatte – und außerdem, weil er eben selbst auch etwas tat, damit alles besser ging. Doch genau an diesem Punkt machen zu viele Deutsche einen Fehler: Kennedys Frage: „Was tust du Bürger eigentlich, damit es dem Staat besser geht“, geht den meisten der Deutschen am Arsch vorbei – und je jünger und schnöseliger sie sind, um so mehr.

Die Zeit des Wandels fällt in eine Zeit des eigenen Wandels, in eine Zeit der neuen Orientierung. Meine alten Jazzplatten, oft von meinem letzten Geld erworben und mit Herzblut gehütet, sind nach und nach zu Staubfängern geworden: wozu sie also aufbewahren? Die paar Coltranes, Mingus und Dolphys, die etwas mit meinem Leben zu tun haben, bekomme ich auch als CDs wieder, und außerdem, ich gestehe es ein, höre ich auch sehr gerne Jane Birkin, Oscar Brown jr. oder Rachel Farrell – und auch immer mehr Kompositionen der so genannten „klassischen“ Musik.

Wie mit den Platten, so geht es mir mit so vielen anderen Dingen auch. Ich bin noch zu jung, um in Nostalgie zu verfallen, will noch etwas bewirken – je mehr Ballast mir da von den Schultern fällt, umso besser, und es bleibt nicht beim Materiellen: Häufige Auslandsreisen waren die Auslöser für Korrekturen an den watteverpackten Ideologien, und ein Aufenthalt in Afrika wandelte mein Denken über die Werte, für die sich zu kämpfen lohnt. Dass dabei auch einige Beziehungen zerbrachen, ist im Nachhinein betrachtet nur eine Randnotiz wert.

In letzter Zeit höre ich mehr auf die Worte, wenn es sich denn lohnt, mehr auf die Töne, wenn sie mich denn beflügeln, und mehr auf die Farben und Formen, wenn ich mich in ihnen wieder finden kann. Die dahinter liegenden Theorien sind mir – mit Verlaub und allem Respekt vor den Andersdenkenden – wirklich Scheißegal geworden.

Nur wenige Geschäftsleute verlassen am Freitagabend Zürich, um in Richtung Budapest zu fliegen: die meisten des kläglichen Häufchens, das heute mit dem kleinen Expressflieger unterwegs ist, sind Wochenendpendler und verirrte Einzeltouristen.

Mein Sitznachbar ist Österreicher, ein gesprächiger Mann, Textilbranche. Ja, er habe schon überall im Ausland gelebt, sehr lange sogar, und einige Jahre wäre er zurückgegangen nach Österreich. Ja, schönes Land, Österreich. Aber jetzt arbeite er in der Schweiz und wohne in Ungarn. Ja, dort bleibe er auch.

Wir stellen bald fest, dass wir Gemeinsamkeiten haben. Längere Auslandsaufenthalte dann eine plötzliche Herzerkrankung, an deren Beginn die Besinnung auf das Wesentliche stand. – und natürlich die neue Perspektive – Ungarn.

Und Deutschland? Der Herr war optimistisch. „Wissen sie“, sagte er nachdenklich, „ich glaube, sie in Deutschland haben endlich erkannt, dass ein Wandel Not tut“, und nach einer Weile des Nachdenkens fügte er hinzu: „Schröder hat es begriffen, die SPD noch lange nicht, aber es wird wenigstens etwas getan“.

Ich konnte es nur bestätigen. Wir Deutsche müssen etwas tun – nicht nur für uns, für Europa. Unsere Nachbarn warten darauf, und sie vertrauen weiterhin in die Qualität deutscher Ingenieurkunst. Name wie Carl Zeiss oder Schneider Kreuznach stehen wieder auf den Objektiven japanischer Kameras. Ja, wir können es noch, aber wir müssen die Mensche auch in neue Richtungen lenken: Wir haben gute Kaufleute, gute Ingenieure und gute Manager, ja, man glaubt es kaum, sogar gute Köche.

Ich sprach erst jüngst mit einem Vater, der sagte, das seine Kinder keinesfalls ins Hotelfach gehen sollten: „Denken sie doch mal an diese unmenschlichen Arbeitszeiten und den geringen Verdienst“. Ja, wenn man so denkt. Aber es gibt kaum einen Beruf, der bei guten Fähigkeiten so schnell in eine internationale Karriere münden kann wie das Hotelgewerbe. Jedenfalls bei weitem besser, als Philosophie oder Soziologie zu studieren und sein Leben anschließend als Taxifahrer zu fristen.

 

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